Warum wir das Schulsystem hinterfragen müssen
Viele Menschen, insbesondere Schüler*innen, leiden unter dem aktuellen deutschen Schulsystem. Täglich sehen sich junge Menschen mit Überforderung, Leistungsdruck, sozialer Ausgrenzung und psychischen Belastungen konfrontiert. Diese Probleme sind nicht neu, doch sie verschärfen sich durch Digitalisierungslücken, fehlende individuelle Förderung und gesellschaftlichen Wandel. Die Frage ist also nicht mehr, ob das System reformiert werden muss, sondern wann und wie schnell wir handeln.
Bereits die OECD-Bildungsberichte kritisieren regelmäßig die starre Struktur und die Selektionsmechanismen des deutschen Schulsystems. Auch die Bertelsmann Stiftung warnt davor, dass Bildungsungleichheiten durch das dreigliedrige System verstärkt statt verringert werden.
Wie geht es Schüler*innen wirklich?
Viele Schüler*innen empfinden ihren Schulalltag als belastend. Studien wie die Shell-Jugendstudie oder der DAK-Präventionsradar zeigen, dass über 40 % der Jugendlichen Symptome von Depression oder Hoffnungslosigkeit verspüren. Zukunftsangst, Notendruck, Mobbing, familiäre Probleme und soziale Ausgrenzung machen Schule für viele zu einem Ort der Belastung statt der Bildung.
Die Universität Leipzig hat 2022 in einer Studie festgestellt, dass psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen seit der Corona-Pandemie deutlich zugenommen haben. Ein großer Teil der Betroffenen berichtet sogar von psychosomatischen Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder anhaltender Erschöpfung.
Was fühlt man, wenn man in der Schule leidet?
Stell dir vor, die Schule wäre kein sicherer Ort – du fühlst dich täglich beobachtet, ausgegrenzt oder sogar aktiv gemobbt. Laut der PISA-Studie 2022 erlebt jeder sechste 15-Jährige in Deutschland regelmäßig Mobbing. Auch die internationale HBSC-Studie zeigt, dass etwa 14 % aller 11- bis 15-Jährigen in Deutschland angeben, regelmäßig Mobbing zu erfahren.
Die psychischen Folgen sind gravierend: Angst, Depression, sozialer Rückzug sowie psychosomatische Beschwerden wie Schlafprobleme und Kopfschmerzen sind häufige Begleiterscheinungen – das zeigen zahlreiche deutsche Studien, u. a. der Universität Leipzig und der Universität Bielefeld.
Eine weitere erschreckende Zahl: Laut mehreren repräsentativen Umfragen, darunter auch Ergebnisse von ZDFheute , fühlt sich etwa ein Viertel der Grundschüler*innen dauerhaft unsicher in der Schule. Hier geht es längst nicht mehr um simples „Gehänsel“, sondern um tiefgreifende psychische Belastungen, die ernste Konsequenzen für die Entwicklung und das Selbstwertgefühl junger Menschen haben.
Mobbing ist keine Kleinigkeit – es sind psychische Tatbestände, die ernst genommen und aktiv bekämpft werden müssen.
Ein fiktives Beispiel, wie Schule jemanden überfordern kann…
Liebes Tagebuch,
ich weiß, eigentlich müsste ich noch etwas für die Schule machen, genauer gesagt, muss ich noch Biologie Hausaufgaben, Pädagogikaufgaben und ein Referat für Englisch vorbereiten und außerdem noch für die Mathearbeit in zwei Tagen lernen. Aber ich kann nicht. Das ist sooo viel, dass ich gar keine Lust habe und gar keine Motivation finde auch nur anzufangen. Aber ich muss, ich muss mich zwingen, weil Bio ist zum Beispiel bis morgen. Alle meinen immer Schule macht Spaß, da sind deine Freunde und so. Erstmal: Welche Freunde? Ich bin laut diesen Idioten doch noch ein Freak. Sie ärgern mich, jeden Tag. Warum fällt das denn niemandem auf? Ich will das nicht mehr! Dieser ganze Druck und dann auch noch diese Idioten aus meiner Klasse. Und in Physik hat der Lehrer heute gemeint, alle sollen bitte ihre Cappys und Kapuzen und Hüte abnehmen, wenn der Unterricht beginnt. Und er hat mich total angeschnauzt, dass ich mein Kopftuch auch abnehmen soll. Nein! Hallo? Wo leben wir denn?
Und als ich mich geweigert habe, hat er richtig feindliche Sachen gesagt, so etwas wie, dass die AFD bitte mal gewinnen soll, damit solche - ich zitiere- „Schweine wie du“ endlich aus dem Weg geschafft sind.
Ähm… geht´s noch?
Und dann meinte er, dass er ja eigentlich schon längst in Rente wäre und dieser verdammte Lehrermangel daran Schuld hätte, dass er es noch nicht sei.
Es stimmt, es werden immer weniger Leute gerne Lehrer, aber ist das ein Wunder bei dem Schulsystem?
Ich habe fast jeden Tag bis abends Schule, muss dann noch einen riesigen Berg an Hausaufgaben und andere Dinge für die Schule erledigen und dann habe ich ja auch noch ein Privatleben. Für Volleyball habe ich schon die ganzen letzten Monate keine Zeit mehr. Und wenn man dann auch noch stundenlang Stoff nachholen muss, den Lehrer einem aufreiben, weil sie fehlen…
Ich bin momentan immer so unglaublich müde, weil ich all das unter einen Hut bekommen muss. Und außerdem ist Oma ja auch noch krank, wir müssen uns jeden Tag um sie kümmern und ich muss auch noch auf meine zwei kleinen Brüder aufpassen. Mental bin ich am Ende. Ist es ein Wunder, dass Schüler immer mehr mit KI arbeiten, weil sie einfach nicht wissen, wie sie das sonst schaffen sollen? Mit einer KI geht das alles deutlich schneller und man hat auch noch Zeit für andere Dinge im Leben. Aber dafür lernt man nicht so gut und die Dinge speichern sich nicht so gut ab.
Eine andere Sache, die mich echt über das Schulsystem aufregt sind die Noten. Ich habe mich so sehr angestrengt, mich in Erdkunde mehr zu melden, weil meine Lehrerin mir dort eine drei gegeben hat. Dabei melde ich mich in Politik genauso viel und habe dort eine eins minus. Und um nochmal zu Erdkunde zu kommen, ein Mitschüler hat dort eine zwei plus, obwohl er alle Aufgaben nur mit ChatGPT macht und den ganzen Unterricht lang nur Spiele spielt oder auf TikTok herumhängt. Das ist doch nicht fair! Genauso im Sportunterricht: Manche sind eben sportlicher als andere, aber dabei strengen sich manche wirklich an, zum Beispiel eine Rolle hinzubekommen und bekommen aber trotzdem keine gute Note, weil sie nicht ordentlich ausgeführt war.
Ach Mann, jetzt muss ich mich irgendwie motivieren noch zu lernen.
Bis bald, liebes Tagebuch,
-Person XY
Mobbing, Rassismus, eine unfaire Notenbewertung und Lehrermangel… all das kann die mentale Gesundheit tausender Schüler und Schülerinnen täglich beeinflussen und schädigen.
Geschrieben von: Alina Steinke
Andere Geschichten von der Autorin: Die Schmetterlingsfreunde und das Rätsel der alten Wassermühle
Warum darf das nicht so bleiben?
Weil es um unsere Zukunft geht. Viele Erwachsene erinnern sich nur ungern an ihre eigene Schulzeit, weil sie damals ähnliche Probleme durchmachen mussten. Doch anstatt daraus zu lernen, bleibt das System wie es ist. Wenn wir nichts ändern, werden die nächsten Generationen dieselben Fehler erneut durchleben.
Die Universität Heidelberg kommt in einer Metastudie zum Schluss, dass Schulstress ein signifikanter Risikofaktor für spätere Burnout-Erkrankungen im Berufsleben ist. Wir brauchen ein System, das nicht auf Gleichmacherei und Notendruck basiert, sondern auf Förderung, Vielfalt, psychischer Gesundheit und individueller Entwicklung.
Was läuft falsch im System?
Das Schulsystem ist nicht auf die Realität der Schüler*innen ausgerichtet:
Es fehlt an psychologischer Betreuung. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie empfiehlt eine Schulpsychologin pro 500 Schülerinnen – tatsächlich liegt der Schnitt in Deutschland bei 1:10.000.
Technische Ausstattung ist oft mangelhaft. Tablets, Whiteboards und stabile Internetverbindungen sind eher die Ausnahme als die Regel.
Noten dominieren, während soziale und emotionale Kompetenzen kaum eine Rolle spielen. Der IQB-Bildungstrend belegt, dass durch Notenvergleich keine validen Aussagen über Kompetenzen getroffen werden können.
Es fehlt an Flexibilität für individuelle Lebenssituationen oder Lernstile.
Besonders Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Rechenschwäche (Dyskalkulie) bekommen kaum Hilfe. Viele leiden leise und glauben, sie seien einfach "zu dumm" – dabei liegt das Problem beim System, nicht bei den Kindern. Die Uni Münster weist darauf hin, dass spezifische Förderpläne für diese Fälle in kaum einem Bundesland standardisiert eingeführt wurden.
Warum braucht es jetzt eine Veränderung?
Weil Bildung die Basis einer funktionierenden Gesellschaft ist. Nur wer sich angenommen, verstanden und gefördert fühlt, kann auch Verantwortung übernehmen, kreativ sein und sich sozial engagieren. Wenn wir unsere Schulen jetzt nicht reformieren, verlieren wir nicht nur Talente – wir schädigen auch das Wohlbefinden ganzer Generationen.
Die Deutsche UNESCO-Kommission betont, dass inklusive, gerechte und hochwertige Bildung ein Grundpfeiler nachhaltiger Entwicklung ist. Es ist Zeit, Schule neu zu denken: individuell, gerecht, digital und menschlich.
Woher kommt unser heutiges Schulsystem? – Das preußische Erbe
Das deutsche Schulsystem ist tief in der Geschichte verwurzelt. Seine Grundstruktur stammt aus dem 18. und 19. Jahrhundert, insbesondere aus dem Königreich Preußen. Der preußische Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt entwickelte ein Schulsystem, das auf Einheitlichkeit, Pflichterfüllung und staatsbürgerlicher Erziehung basierte. Mit der allgemeinen Schulpflicht ab 1717 unter Friedrich Wilhelm I. und der Verankerung von Fächern, Noten und festen Hierarchien wurde ein Modell geschaffen, das auf Disziplin, Autorität und standardisierten Bildungswegen beruhte.
Obwohl dieses System historisch betrachtet einen enormen Fortschritt darstellte – insbesondere im Vergleich zu vielen anderen Ländern seiner Zeit – ist es in wesentlichen Punkten bis heute kaum verändert worden. Das dreigliedrige Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) hat seine Wurzeln in diesen preußischen Vorstellungen von Bildung als gesellschaftlicher Sortiermechanismus.
Wie sehr hat sich das System seitdem verändert – oder eben nicht?
Seit der Weimarer Republik und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gab es immer wieder Reformversuche, doch die grundlegenden Strukturen blieben erstaunlich stabil. Die 1970er Jahre brachten Reformansätze wie Gesamtschulen und mehr Mitbestimmung, doch viele dieser Modelle konnten sich nicht flächendeckend durchsetzen. Auch die Einführung von Ganztagsschulen oder das G8/G9-Modell blieb umstritten.
Laut einem Vergleich der Universität Potsdam hat sich das deutsche Schulsystem in den letzten 150 Jahren in seinen Grundpfeilern kaum verändert – während Länder wie Finnland, Schweden oder Kanada auf integrative und individuelle Förderung umgestellt haben.
Heute erleben wir eine Gesellschaft im Umbruch: Digitalisierung, Diversität, mentale Gesundheit und Lebenslanges Lernen sind zentrale Themen – doch unser Schulsystem stammt aus einer Zeit, in der Disziplin, Ordnung und Gehorsam wichtiger waren als Kreativität, Kritikfähigkeit oder Empathie. Wenn wir wollen, dass junge Menschen in einer offenen, komplexen und demokratischen Gesellschaft bestehen, dann reicht ein System aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr aus.
Ein überholtes System braucht moderne Antworten
Die Grundlage unseres heutigen Bildungssystems stammt aus einer anderen Zeit. Es war ein Fortschritt – damals. Heute jedoch steht es vielerorts eher im Weg. Psychische Belastungen, soziale Ungleichheit, Leistungsdruck und veraltete Strukturen zeigen, dass es an der Zeit ist, Schule grundlegend neu zu denken. Das heißt nicht, alles Altbewährte über Bord zu werfen – aber es bedeutet, den Mut zu haben, neue Wege zu gehen. Wir brauchen ein Bildungssystem, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern junge Menschen wirklich stärkt.
Schule sollte ein Raum sein, in dem Unterschiedlichkeit nicht nur akzeptiert, sondern als Stärke begriffen wird – und der Kinder und Jugendliche auf eine sich ständig verändernde Welt vorbereitet.